«Der Bund», 19. 8.  2016

Wenn der notorische Haderlump hadert

Dass Fremdwörter Glückssache sein können, ist wohlbekannt. Aber auch urwüchsig deutschen Wörtern kann dieses Schicksal widerfahren. Mehrmals ist mir das in letzter Zeit beim Verb «hadern» aufgefallen. Laut dem Online-Duden ist es schon im Mittelhochdeutschen in der Bedeutung «streiten, necken» bekannt, und so bedeutet es noch heute «(mit jemandem um etwas) rechten, streiten», dazu aber auch «unzufrieden sein und [sich] deshalb [be]klagen oder aufbegehren» – hierzulande wird es wohl häufiger im letzteren Sinn gebraucht.

Jetzt aber lese ich, dass eine Frau «die ganze Nacht lang hadert» und dann der Polizei ihre Vergewaltigung doch noch anzeigt. Oder von einem «Land, das mit sich hadert, ob es diesen Milliardär ins Herz schliessen soll», oder gar: «Ein Grossteil der Tessiner Polizisten hadert mit Fremdsprachenkenntnissen.» Im letzten Fall ist nicht etwa gemeint, es reue die Polizisten, dass sie sich mit Sprachenlernen strapaziert hätten, und auch nicht, sie machten sich im Gegenteil Vorwürfe, weil ihnen die Kenntnisse fehlten. Vielmehr geht es um die Feststellung, sie täten sich mit Fremdsprachen schwer: In Lugano könnten 98 von 100 Polizisten kein Englisch. In den ersten beiden Beispielen steht «hadern» für «werweissen, mit sich ringen» – das Wörterbuch weiss davon (noch) nichts.

Dass Wörter neue Bedeutungen erhalten, ist keine Seltenheit, langfristig gesehen sogar die Regel, nur schon weil sie oft für Dinge verwendet werden, die es früher nicht gab. Bei der neuen Verwendung von «hadern» geht es aber um das uralte Hin und Her bei schwierigen Entscheidungen, das sich via Hamlet und Buridans Esel bis ins Altertum zurückverfolgen lässt. Zwar merkt man bald, ob jemand im gewohnten Sinn mit erlittener Unbill hadert oder neumodisch auf einen kniffligen Entscheid hin (mit dem er vielleicht nachher wiederum herkömmlich hadert, wenn er ihn bereut). Aber ich sehe keinen Grund, das Gegenüber überhaupt werweissen zu lassen, welches «hadern» nun gemeint sei.

Kein Problem ist dagegen die Unterscheidung, ob jemand mit Erlittenem hadert oder im älteren Sinn mit jemand anderem, also streitet. Ebenso ist gleich klar, ob «der Hader» «Streit, Zwist» bedeutet oder «Unzufriedenheit, Aufbegehren». Das Wort könnte aber auch, immer nach Duden, «bayrisch, österreichisch für Lumpen» oder «ostmitteldeutsch für Scheuertuch» stehen. In diesem Fall geht es zurück auf «althochdeutsch hadara, vielleicht zu einem Wort mit der Bedeutung ‹(Ziegen)junges› und ursprünglich = Kleidungsstück aus Ziegenfell». Den zerlumpten Kleidern verdankt wohl auch der in Österreich anzutreffende Haderlump («liederlicher Mensch») seinen Namen, nicht etwa der Streitlust.

Einen notorischen Haderlumpen kann man sich gut vorstellen, also einen, der für seine Liederlichkeit bekannt ist. Von seiner lateinischen Wurzel her (notus, bekannt) kann das «bildungssprachliche» Adjektiv auch gute Eigenschaften begleiten, aber das ist selten geworden. So selten, dass die negative Verwendung auf das Wort selber abzufärben beginnt: Da steht jemand in einem «notorischen Ruf», oder es gibt im EU-Vertrag den «notorischen Paragrafen 50». Jeder Ruf muss notorisch sein, also wohlbekannt, sonst ist er keiner; gemeint ist hier aber ein übler. Und falls man vom Vertragsartikel über den Austritt aus der EU nur sagen wollte, den kenne nun bald jeder, dann hat man wahrscheinlich übers Ziel hinausgeschossen: Der Paragraf bekommt da etwas Ominöses.

Ist hier mit der notorischen Glückssache Fremdwort etwas schiefgelaufen, oder bahnt sich ein Bedeutungswandel zum per se Negativen an, weil eben kaum noch etwas Erfreuliches «notorisch» genannt wird? Noch ist es selten, dass «notorisch» ohne Angabe des Übels gebraucht wird, aber «berüchtigt» bedeutet es schon, und mit diesem Wort kann man jemanden auch anschwärzen, ohne den Vorwurf zu präzisieren.

© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)