«Der Bund», 21. 4. 2018
Mit Widersprüchen klug reden und leben
Da kommt in Deutschland eine Kundin in den Laden und verlangt deutsche Kartoffeln. Der Händler bietet ihr an, was er hat: holländische. Wie die Kundin auf deutschen besteht, gibt er zurück: «Wollen Sie die Kartoffeln nun essen oder sich mit ihnen unterhalten?» Diese Anekdote erzählt der (deutsche) Linguist Winfried Ulrich im aktuellen «Sprachspiegel» – nicht nur als Müsterchen für Schlagfertigkeit, sondern in einem weiteren Zusammenhang: Er untersucht, wie Gegensätze zugleich unser Denken und unsere Sprache prägen.
Ulrich geht vom Spracherwerb von Kleinkindern aus und schreibt über Gegensatzpaare, «die wir im Wortschatz, in unserem inneren, ‹mentalen Lexikon› gespeichert haben und die wir täglich verwenden, z. B.: schnell – langsam, gross – klein, billig – teuer, beruflich – privat, Krieg – Frieden, kommen – gehen, vorher – nachher. Die Bedeutung solcher und anderer Gegenwörter für unser begriffliches Denken und für unsere sprachliche Verständigung wird zumeist unterschätzt.» So drängt sich der Verdacht auf, dass uns Schwarz-Weiss-Denken von frühester Jugend an eingetrichtert wird – nicht mit der Muttermilch, aber mit der Muttersprache.
Auch im Märchen sind Gut und Böse meistens klar erkennbar geschieden. Zwar lernen Kinder mit der Zeit ebenfalls, dass es zwischen kalt und heiss auch noch warm gibt, und sogar, dass sich manche Gegensätze nicht unbedingt ausschliessen: Eile mit Weile! Aber auch noch bei Erwachsenen ist die Neigung zum Entweder-oder weit verbreitet – bis in die zeitgenössische Politik mit ihren populistischen Versuchungen: wir gegen die andern.
Um Zwischentöne hör- und sichtbar zu machen, kann ein genauerer Blick auf die Sprache wiederum helfen, gerade auch in humoristischer Form wie beim schlagfertigen Gemüsehändler. Der zeigt uns nebenbei eine der besten Waffen, um der kämpferischen Übertreibung von Gegensätzen die Spitze zu brechen: die Ironie. Mit diesem rhetorischen Stilmittel läuft man freilich immer Gefahr, falsch verstanden zu werden, hier also wörtlich: «Dummkopf, wer will schon mit Kartoffeln reden», mag sich die Kundin gedacht haben. Ernst meinte es der Händler vielleicht schon, aber nicht so, sondern eher so: «Also bis zu den Kartoffeln muss die Fremdenfeindlichkeit nun ja wirklich nicht gehen.»
Es kommt nicht nur beim Zuhören vor, dass dass sich der wahre Sinn erst mit Nachdenken erschliessen lässt, wenn überhaupt: Auch die Wirklichkeit ist von Widersprüchen geprägt, und der Umgang damit prägt unser Leben. Etwa: Gehen wir gern mit dem Kopf durch die Wand oder denken wir daran, dass der direkte Weg nicht immer der kürzeste ist, und eilen deshalb mit Weile? Und wie halten wir es mit sprachlichen Gegensätzen, die ja oft auch Ausdruck unterschiedlicher Blickwinkel sind? Wie nennen wir als Journalisten Leute, die für ihre Gegner «Terroristen» sind, für ihre Verehrer aber «Freiheitskämpfer»? Die Antwort kann wohl nur lauten: Es kommt drauf an; es bleibt uns nicht erspart, die jeweiligen Umstände zu berücksichtigen, statt Schablonen anzuwenden. Erst recht gilt das, wenn es nicht «nur» um Worte geht, sondern um eigene Taten, um den Lebenswandel.
Zurück zu Winfried Ulrich: Mit Gegensätzen leben zu können, nennt er gestützt auf dem Philosophen Werner Busch «antinome Lebensführung»: «Einerseits das Wissen um die eigene Gefährdung, die jederzeit in eine Katastrophe übergehen und in Verzweiflung enden kann, andererseits der Lebensmut und die Zuversicht, die ein fröhliches Leben dennoch möglich machen: Beides gehört bei aller Gegensätzlichkeit zusammen.» Er würde ein Apfelbäumchen pflanzen, wüsste er, dass morgen die Welt unterginge – das habe Luther vielleicht nicht gesagt, gewiss aber dies, über die «Freiheit eines Christenmenschen»: Der «ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan (und) ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.» Möge er wissen, wann was gilt.
© Daniel Goldstein (sprachlust.ch)